92 Franz Kafka. Eigenhändiges Manuskript »Erstes Leid« und eigenhändiger Brief mit Unterschrift.

Zum 100. Todestag

Beide ohne Ort und Datum. Fünf Blätter, einseitig beschrieben, und ein gefalztes Doppelblatt, drei von vier Seiten beschrieben.

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Description

Manuskript: Betitelt, in Reinschrift mit zwei knappen Textkorrekturen und einer eingefügten Absatzmarke. – Auf glattem Papier aus einem Notizbuch mit rotem Buchschnitt und abgerundeten Ecken. 24,5 : 19,5 cm. Als Briefbeilage ehemals zweifach gefaltet. – Die Erzählung schrieb Kafka wahrscheinlich während seines Winterurlaubs in Spindlermühle (heute: Spindleruv Mlyn) im Januar und Februar 1922. Nach langer Pause begann er dort wieder zu schreiben, es entstanden auch die ersten Kapitale des Romans »Das Schloß«. Max Brod hatte Kurt Wolff noch im Januar von Kafkas dauerhafter Erkrankung berichtet und erwähnt, dass dieser »seit Jahr und Tag überhaupt kein Manuskriptblatt aus den Händen gibt und auch vorläufig für alle Zukunft ablehnt, etwas drucken zu lassen« (zitiert nach Dietz). Die Sendung an Kurt Wolff »markiert das Ende jener fünfjährigen Phase des Verstummens, die mit dem Ausbruch der Tuberkulose im Jahr 1917 begann und die zugleich auch einen Tiefpunkt in den Beziehungen zu seinem Verleger Kurt Wolff mit sich brachte. […] Kafkas Brief an Hans Mardersteig ist wohl ein Meisterstück seiner ›Methode‹. In der Hoffnung, daß die ›Methode‹ ihre Wirkung nicht verfehlen werde, drückt sich der Wunsch aus, daß die ›Wahrheit‹ (also das negative Urteil über sich selbst) dementiert werden möge. Würde Mardersteig dieses Manuskript Kafkas zerrissen haben, nachdem er Kafka hatte wissen lassen, daß er alles, was von ihm käme, drucken würde? Und analog dazu: Würde Max Brod […] den Nachlaß seines Freundes den Flammen übergeben?« (Leonhard Fiedler). – Erstdruck in »Genius«, der exklusiven Kunstzeitschrift, die seit 1919 bei Kurt Wolff erschien, herausgegeben von Hans Mardersteig und Carl Georg Heise, im zweiten Heft des dritten Jahrgangs auf Seiten 312f. – Die Erzählung erschien in Buchform 1924, wenige Tage nach Kafkas Tod, zusammen mit drei weiteren Erzählungen in »Ein Hungerkünstler« (Berlin, Die Schmiede, siehe KatNr. 301), »aufgrund der aktiven Teilnahme Kafkas an der Herstellung seiner gültigen Textgestalt […] nur im äußerlichsten Sinne des Wortes als posthume Publikation zu bezeichnen, richtig verstanden ist es der tatsächlich letzte Druck zu seinen Lebzeiten.« (Ludwig Dietz, S. 130). Es war das erste und einzige Buch, das Kafka einem anderen Verleger anvertraute.

Brief: Anfang Mai 1922 reagierte Franz Kafka auf zahlreiche bittende Anfragen Kurt Wolffs nach einem neuen Text, die er seit Anfang 1920 nicht oder wenn, dann freundlich ablehnend beantwortete, endlich positiv. – An Hans Mardersteig, den Freund und leitenden Mitarbeiter Kurt Wolffs, der seit 1919 die von ihm konzipierte Kunstzeitung »Genius« herausgab, schreibt Kafka: »[…] ich schicke die kleine Geschichte in der Beilage [dort vorher, nun gestrichen: »in ein, zwei Tagen«]. Eine armselige Sache, die aber da nun Brod sie erwähnt hat, zu schicken doch vielleicht gut ist, da Sie aus ihr sehen werden, dass meine Zurückhaltung bisher weder Trotz noch Laune oder gar die Begierde war, so tröstlich-herrliche Briefe hervorzulocken, wie es die Ihren waren und Herrn Wolffs […] Fühlen Sie sich bitte nicht gezwungen, die Kleinigkeit anzunehmen; wenn es Sie nur eine kleine Überwindung kosten würde, es zu drucken, zerreissen Sie ruhig das Manuskript, ich brauche es nicht. Gut ist ja an dem Ganzen nur der Titel, nur weil er für sich nicht genug Schwerkraft hat, habe ich die Ge[schi]chte an ihn gehängt.« – Kafka bittet Hans Mardersteig, »meine Sache bei ihm [Kurt Wolff] zu führen, dass er nämlich mein Nichtantworten entschuldigt – mit diesen Briefen verhält es sich so, dass sie mich immer glücklich und unglücklich machen, glücklich, weil mich diese Teilnahme unmässig freut und alle meine Eitelkeit kitzelt, unglücklich, weil ich dagegen nichts entsprechendes geben kann. […] wenn […] ich frei die Nächte durchschreiben, frei die Tage durchschlafen kann, werde ich vielleicht – innerhalb der Schicksalsgrenzen – erträglich Gutes schreiben.« Er habe in den vergangenen fünf Jahren fast nichts, und wenn, dann »jämmerliches Zeug, öde Strickstrumpfarbeit, mechanisch gestückelte, kleinliche Bastelei« geschrieben. Er nimmt an, dass Max Brod in München diese Selbstkritik nicht vollständig weitergegeben habe, »denn alles was ich ihm vorlese, erzähle ich in den schönen Traum hinein, den er von mir träumt und es wird gleich traumhaft erhöht. Man kann eben zweierlei zugleich sein: eines Freundes guter Traum und das eigene böse Wachsein. || Mit herzlichen Grüssen für Sie und Herrn Wolff || Ihr Kafka«. – Nachsatz mit Bleistift: »Falls Sie das Stück aufnehmen sollten, hätte ich gern den Bürstenabzug, wenn es ohne Schwierigkeiten möglich wäre.«

Der Brief muss den Verlag in den ersten Maitagen 1922 erreicht haben. Hans Mardersteig war verreist, weshalb Kurt Wolff am 10. Mai 1922 Kafka dafür dankt, »daß Sie dem ›Genius‹ die schöne Erzählung ›Erstes Leid‹ freundlichst sandten.« Bereits am 6. Mai berichtete Wolff Hans Mardersteig in einem Brief: »Kafka hat einen kleinen Beitrag geschickt mit einem Begleitbrief, der hinreißend schön ist und an den Sie mich erinnern müssen, wenn Sie hier sind; denn dieser Begleitbrief geht gerade Sie aus mündlich zu erörternden Gründen an.«


Mit Eingangsnotiz »Leipzig« auf Seite 4, am Oberrand von Seite 1 mit »Kafka« bezeichnet. – Auf Rechenpapier, die leicht gebräunten Außenseiten auch minimal stockfleckig. Gelocht. – Kommentierter Erstdruck in »Die Zeit«, 29. Juli 1983, Seite 33. – Abbildungen umseitig

Provenienz: Seit 1922 im Familienbesitz Mardersteig. Hans M. (1892–1977) verließ im Herbst 1922 aus gesundheitlichen Gründen München und damit den Kurt Wolff Verlag. In Montagnola gründete er die Officina Bodoni, edierte elegante Handpressendrucke und übersiedelte 1927 nach Verona.<br><br>In Halbpergamentmappe mit Kleisterpapierbezügen, gedrucktem Rückenschild und Schuber.

Literatur: Kurt Wolff. Briefwechsel eines Verlegers 1911-1963. Frankfurt 1967, SS: 52-56 und S. 394. – Ludwig Dietz. FK. Die Veröffentlichungen zu seinen Lebzeiten. Heidelberg 1982. – Leonhard M. Fiedler, in: Die Zeit, 29. Juli 1983. – Klaus Wagenbach. FK. Bilder aus seinem Leben. Berlin 1989, S. 206. – Gerhard Neumann, Süddeutsche Zeitung, Januar 2003

In Halbpergamentmappe mit Kleisterpapierbezügen, gedrucktem Rückenschild und Schuber.

Literatur: Kurt Wolff. Briefwechsel eines Verlegers 1911-1963. Frankfurt 1967, SS: 52-56 und S. 394. – Ludwig Dietz. FK. Die Veröffentlichungen zu seinen Lebzeiten. Heidelberg 1982. – Leonhard M. Fiedler, in: Die Zeit, 29. Juli 1983. – Klaus Wagenbach. FK. Bilder aus seinem Leben. Berlin 1989, S. 206. – Gerhard Neumann, Süddeutsche Zeitung, Januar 2003

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